15. März 2021, Montagmorgen, 9 Uhr. Nach vielen intensiven Monaten der Vorbereitung und Entwicklung ist es endlich so weit: Das Agrarportal Hessen geht live.
Die IT-Fachleute der WIBank, der Helaba und des Drittanbieters IBYKUS haben das System bereits vor drei Stunden hochgefahren, denn trotz der vielen Tests im Vorfeld will man ganz sicher gehen, dass wirklich alles funktioniert.
Der Start des neuen Onlineportals ist schließlich breit angekündigt worden: Jeder landwirtschaftliche Betrieb in Hessen wurde postalisch eingeladen, sich am 15. März von der neuen digitalen Lösung zur Agrarförderung zu überzeugen.
Kurz nach 9 Uhr sieht alles noch gut aus. Die Website scheint bereit. Die Anspannung in der IT fällt ein wenig ab. „Ich bin dann los, habe mir den ersten Kaffee und ein Brötchen in der Cafeteria geholt, und dachte noch: Heute wird ein guter Tag!“, berichtet Marco Wilbert, der als IT-Koordinator für sämtliche Systeme der Landwirtschaftsförderung bei der Helaba verantwortlich ist.
In der Zwischenzeit klingelt bei Carsten Gath das Telefon. Als Leiter der Gruppe Flächenprogramme in der Abteilung Landwirtschaftsförderung der WIBank betreut er auch das neue Agrarportal. Als er den Hörer abnimmt, wird er zu seiner Verwunderung gefragt: „Seid ihr heute doch nicht gestartet? Die Seite ist ja gar nicht da.“ Es folgen weitere Anrufe von Bewilligungsstellen: „Was ist los bei euch? Die Portalseite kann nicht aufrufen werden!“
9.30 Uhr ist klar: Es gibt ein Problem. Fehlercode 404. Die Seite kann nicht geöffnet werden. Offenbar war der Andrang so groß, dass die Last für den Server zu hoch war. „Was haben wir gemacht? Wir haben das System herunter- und wieder hochgefahren, denn häufig löst ein Reboot das Problem“, so Marco Wilbert. So war es auch in diesem Fall – allerdings nur für ein paar Minuten.
Als sich die Landwirte wieder anmeldeten und die Last auf das System zunahm, ist es sofort wieder kollabiert. Auch ein zweiter Systemneustart bringt nicht die erhoffte Lösung und am Mittag ist klar: Das wird doch kein guter Tag. Die Anrufe häufen sich und es wird hektischer. „Am Nachmittag haben wir uns ratlos angeschaut, denn die technischen Probleme waren auf die Schnelle nicht zu finden, geschweige denn zu lösen“, so Carsten Gath. Damit ist der Worst Case eingetreten, der viele Fragen offenlässt: Was ist passiert? Wo liegt der Fehler? Und vor allem: Wie schnell kann er behoben werden?
werden 2022 über die Agrarförderung des Landes Hessen ausgeschüttet.
Dass die WIBank seit Anfang der 2000er-Jahre in Hessen die Landwirtschaftsförderung abwickelt, ist keine Selbstverständlichkeit. „Meines Wissens sind wir in ganz Europa die einzige Bank, die diese Aufgabe von der Politik übernommen hat“, erklärt Helge Jordan, Leiter der Abteilung Landwirtschaftsförderung bei der WIBank. „Anfangs wurden wir noch misstrauisch beäugt, aber mittlerweile haben wir alle Zweifler – intern und extern – überzeugt.“
Das Antragsverfahren hat sich seither stark gewandelt. Vor der Jahrtausendwende waren Papier und Kugelschreiber „State of the Art“; dem Zeitgeist entsprechend wurde der Digitalisierungsgrad in den vergangenen Jahren sukzessive erhöht. Gerd Trautmann, Leiter des Referats für Agrarpolitik, Agrarmärkte und Flächenförderungen des Hessischen Umweltministeriums, erinnert sich: „Ab 2005 haben wir den Antrag auf CD und später auf USB-Stick verschickt, sodass die Landwirtinnen und Landwirte das Formular am heimischen PC ausfüllen und ausdrucken konnten. Dabei haben wir viele Erfahrungen gesammelt, die nun in das Agrarportal eingeflossen sind.“
Zudem sei es enorm wichtig gewesen, die Landwirtinnen und Landwirte nach und nach an die digitalen Prozesse heranzuführen, um die größtmögliche Akzeptanz zu erreichen. Denn was nützt ein Onlineportal ohne passende Breitbandanbindung, EDV-Ausstattung oder schlicht ohne die Motivation, den Antrag am Computer zu stellen?
„Die Agrarförderung ist das Kernstück der Agrarpolitik. Sie hat existenzielle Bedeutung für 80 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe.“
Gerd Trautmann,
Leiter des Referats für Agrarpolitik, Agrarmärkte und Flächenförderungen
Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
„Es geht nur gemeinsam“, sagt Carsten Gath, „und die landwirtschaftlichen Betriebe sind die größte Gruppe der Teilnehmenden des Projekts. Wir wollten sie von den Vorteilen überzeugen, genau wie die Bewilligungsstellen bei den Landräten, die für die Antragsbearbeitung zuständig sind.“ Weitere wichtige Akteure bei der Entwicklung des Agrarportals waren neben dem Hessischen Ministerium für Umwelt und Klimaschutz die bankinterne IT-Abteilung – speziell die Gruppe Anwendungsentwicklung – sowie die Kommunikationsabteilung der WIBank. Darüber hinaus wurde bereits 2016 ein externer Partner an Bord geholt. Mit der IBYKUS AG wurde ein Generalunternehmer gefunden, der das komplette Servicespektrum abdeckt.
Als Ziel für die Fertigstellung des Agrarportals wurde das Jahr 2021 festgelegt – natürlich mit Blick auf die jährliche Abgabefrist der landwirtschaftlichen Betriebe für die Antragsstellung am 15. Mai. Folglich musste die Website einige Wochen vorher online sein. Die Konzeption und Entwicklung der Seite hat 19 intensive Monate in Anspruch genommen.
„Agile Projekte sind eine Reise. Von Station zu Station kommt man ans Ziel.“
Marco Wilbert,
IT-Koordinator Helaba
Im Herbst 2022 können wir festhalten: Mission erfüllt! Hessen hat als erstes Bundesland und als erste europäische Region überhaupt eine vollständig digitale Antragstellung für die Agrarförderung installiert. Das moderne Erscheinungsbild im Look der WIBank erinnert durch die Satellitenkarte, auf der die Landwirtinnen und Landwirte ihre Flächen einsehen können, ein wenig an Google Maps.
„Wir wollten das Portal von Anfang an sinnvoll gestalten.“
Helge Jordan,
Leiter der Abteilung Landwirtschaftsförderung, WIBank
Der Kern des Portals ist aber die digitale Antragstellung. Ab sofort läuft der gesamte Prozess ohne Papier, was jährlich Unmengen an Ressourcen spart und die Umwelt schont. Die Nutzenden können Dokumente bequem hochladen, statt sie verschicken zu müssen, und auch eine händische Unterschrift ist nicht mehr notwendig. Ohnehin ist der Aufwand für die Antragstellenden auf ein Minimum reduziert: Alle Daten zur Person sowie zu den Flächen sind bereits vorgetragen und müssen nur noch auf ihre Richtigkeit überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. „Das Portal funktioniert sehr intuitiv“, berichtet Agrarbetriebswirt Markus Wien. „Es wird immer eine Kurzanleitung mitgeschickt, aber ich habe sie noch nie lesen müssen, da es immer selbsterklärend war.“
Wenn sich Fehler einschleichen, schützen rund 300 systemimmanente Plausibilitätsprüfungen die Antragstellenden vor fehlenden oder unplausiblen Eingaben und Falschbeantragung. Dadurch wird auch die Verwaltungsarbeit bei der Bearbeitung der Anträge spürbar verringert. Die Bewilligungsstellen profitieren ebenfalls vom neuen digitalen Prozess; bislang wurde jedes Blatt Papier händisch ins System übertragen und nach dem Vier-Augen-Prinzip kontrolliert. Dieser Aufwand entfällt nun. „Weniger Bürokratie spart sowohl den Antragstellenden als auch der Verwaltung viel Zeit und damit Geld. Das Agrarportal Hessen schafft eine klare Win-win-Situation“, so Gerd Trautmann. Darüber hinaus würden die gestrafften Prozesse zu einer schnelleren Auszahlung führen.
Das klingt alles wunderbar – und mittlerweile können die Beteiligten voller Stolz und Freude auf ihr „Baby“ schauen. Doch vor eineinhalb Jahren war das noch anders. Nach dem mehrmaligen Absturz des Portals stieg der Puls bei allen Beteiligten, zumal zunächst völlig unklar war, wo der Fehler lag. „Wir mussten zwei Fragen beantworten: Erstens wie gehen wir mit dem konkreten Problem um und zweitens was kommunizieren wir nach außen? Immerhin haben wir 20.000 Betrieben ein funktionierendes Onlineportal versprochen“, erklärt Helge Jordan.
Es wurde schnell klar, dass ein vielschichtiges Problem vorlag, weshalb sich mehrere kleine Teams auf Fehlersuche begaben. Tagelang konnte niemand absehen, wann das Portal wieder live gehen kann. „Das war der Punkt, an dem wir vollständig auf die Bremse getreten sind“, erinnert sich Carsten Gath. „Wir wollten lieber zwei Wochen richtig auf Ursachenforschung gehen, als einen Schnellschuss zu machen, der dann wieder scheitert.“ Und genau so kommuniziert es die WIBank auch nach außen. Keine Salamitaktik, keine Beschönigungen – stattdessen das ehrliche Eingeständnis: „Wir haben hier ein Problem und wir müssen uns die Zeit nehmen, es zu lösen.“
„Trotz der Krisensituation hat uns das Ministerium zu jedem Zeitpunkt den Rücken freigehalten. Das hat uns bei der Lösungssuche enorm geholfen.“
Carsten Gath,
Leiter der Gruppe Flächenprogramme, WIBank
Doch wie schafft man Vertrauen zum Auftraggebenden, den Kunden und Interessenvertretungen mitten in einer Pandemie, die persönliche Treffen unmöglich macht? „Wir wollten maximale Transparenz demonstrieren und uns nicht verstecken, weshalb wir uns regelmäßig in großer Runde – mit manchmal 100 Teilnehmenden – in Videokonferenzen zusammengeschaltet haben“, so Carsten Gath. „So konnten wir uns in die Augen schauen und glaubhaft vermitteln, dass wir alles tun, um den Fehler schnellstmöglich zu beheben.“ Auch mit den Bewilligungsstellen wurde permanent der Austausch gesucht; die Landwirtinnen und Landwirte erhielten in diversen Online-Veranstaltungen Updates. Zudem wurden die Kommunikationskreise um Verbände wie den Hessischen Bauernverband oder den Landesagrarausschuss erweitert. Für Helge Jordan war dieses Vorgehen die einzig richtige Wahl: „Der offene Umgang mit dieser Krisensituation hat definitiv dazu geführt, dass uns die Menschen weiter vertraut haben – obwohl wir zu der Zeit objektiv gesehen nicht gut performt haben. Der Spruch ist platt, aber: Ehrlich währt am längsten.“
Es dauert einige Tage, bevor klar ist, dass verschiedene Systemstörungen vorliegen. Eine Ursache ist die unzureichend konfigurierte Firewall, die viel zuviele gleichzeitge Anfragen an die Datenbank schickt, die dadurch nicht mehr reagiert. Ein größeres Problem ist jedoch das Laden der Satellitenbilder für die Karten, die von den Nutzenden des Portals deutlich intensiver genutzt werden als gedacht. Offenbar haben nahezu alle zunächst mal auf der Karte gescrollt, um die eigenen Flächen oder die der Nachbarn anzuschauen – und dafür war die Bandbreite zu gering und nicht ausgelegt.
5. April 2021, Montagmorgen, 9 Uhr. Nach drei intensiven Wochen der Fehlersuche und
-behebung ist es endlich so weit: Das Agrarportal Hessen geht wieder live. Die Anspannung ist groß. Hält das in der Kürze der Zeit gebaute Provisorium? Die Anzahl der Nutzenden, die auf das Portal gleichzeitig zugreifen können, ist zunächst noch begrenzt. Doch jeden Tag kann die Zahl nach oben korrigiert werden. Das System läuft und ist stabil. Erleichterung macht sich breit.
Alle Personen, die aktiv an der „Wiederauferstehung“ des Agrarportals Hessen mitgewirkt haben, sind sich einig: „Ohne dieses einzigartige Teamwork hätten wir es nicht geschafft!“ Statt Schuldzuweisungen, Druck und Frust herrschten trotz der Ausnahmesituation Kooperation, Wertschätzung und Verständnis. Marco Wilbert bringt die Erfolgsformel auf den Punkt: „Wir wussten: Wir alle sind Teil des Teams, wir alle sind Teil des Problems, wir alle sind Teil der Lösung. Und wir werden das gemeinsam schaffen!“ Das Hessische Umweltministerium hat mit großem Verständnis reagiert, statt zusätzlichen Druck aufzubauen. „Durch unsere langjährige Zusammenarbeit mit dem Ministerium hat sich ein tiefes Vertrauensverhältnis entwickelt und das merkt man besonders, wenn die Sonne mal nicht scheint“, so Helge Jordan. „Über drei Wochen konnten wir keinerlei Lösungshorizont anbieten, aber Herr Trautmann und die anderen Kollegen aus dem Ministerium haben uns immer voll unterstützt. Das war von unermesslichem Wert für uns.“ Und Gerd Trautmann ergänzt: „Wir hatten tatsächlich zu jedem Zeitpunkt vollstes Vertrauen in unsere langjährige partnerschaftliche Zusammenarbeit, welches am Ende auch bestätigt worden ist.“
Im Mai 2022 endete bereits die zweite große Antragskampagne über das Agrarportal Hessen – ohne nennenswerte Vorkommnisse. Das System ist stabil und die Landwirtinnen und Landwirte können sich auf die Ausschüttung von rund 230 Millionen Euro im Dezember freuen.
„Es ist schön, dass es jetzt so ruhig ist und der ,Thriller‘ doch noch ein Happy End hatte“, so Gerd Trautmann. „Zumal ab 2023 die neue Agrarförderperiode beginnt und wir nun wissen, dass wir den vielen anstehenden Veränderungen mit einem funktionsfähigen System begegnen können.“
„Für mich bietet das Agrarportal Hessen schon jetzt eine enorme Erleichterung – und ich bin gespannt, welche Entwicklungen noch kommen werden.“
Markus Wien,
Agrarbetriebswirt Dairy Farm Wien
Unabhängig von den inhaltlichen Herausforderungen auf EU-Ebene planen die IT-Fachleute der WIBank bereits die Weiterentwicklung des Agrarportals. Die Landwirtschaftsbetriebe sollen die Seite zukünftig nicht nur einmal im Jahr besuchen, um ihre Anträge zu stellen; stattdessen könnte die Website als Kommunikations- und Informationsplattform zur beständigen Anlaufstelle werden. Geplant ist beispielsweise, Prüfberichte und eine entsprechende Historie zugänglich zu machen sowie Förderbescheide zum Download anzubieten. 2023 soll zudem eine App kommen. Diese soll mittels Künstlicher Intelligenz weiter vereinfacht werden.